Aktuelle Stunde „Industrie in Ostdeutschland“

Felix Banaszak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schulze, ich habe wahrgenommen, dass Sie gerade versucht haben, Einigkeit in der Unionsfamilie darzustellen, die, glaube ich, real gar nicht da ist. Sie sagen: „Intel ist super, eine tolle Sache“, und fragen die AfD, wie sie dazu steht – eine berechtigte Frage; Kollege Müller hat das auch gesagt. Aber Sie haben mit keinem Wort erwähnt, dass es wohl auch andere Akteure in der Unionsfraktion gibt, die sagen: „Was für ein herausgeschmissenes Geld! Diese ganze Subventioniererei, das machen wir mal nicht!“ Ich glaube, Sie haben auch eine Klärung in Ihrer eigenen Parteienfamilie vor sich, Herr Schulze.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Sepp Müller [CDU/CSU]: Wir stehen dazu klarer als Ihre Außenministerin zu Israel!)

Anscheinend haben Sie das auch an anderer Stelle. Aber über die Schuldenbremse möchte ich gleich noch sprechen. Herr Müller, Sie haben mit einer großen Tirade begonnen, wie schlimm das alles ist, großes Versagen der Ampel. Wissen Sie, ich habe gestern die „Tagesschau“ gesehen. Friedrich Merz hat große Vorwürfe gegen die Regierung erhoben,

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig so!)

ihr politisches Versagen auf ganzer Linie vorgeworfen. Soll ich Ihnen etwas sagen? Ich habe mich gefragt: Warum sieht sie denn so komisch aus? Es war die „Tagesschau“ von vor 20 Jahren. Seit 20 Jahren die gleiche Leier und kein eigener Lösungsansatz. Ich glaube, Sie müssen sehen, dass die Welt sich verändert hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Herr Merz, den ich angesprochen habe, hat sich am Dienstag in der Aussprache zur Regierungserklärung noch einmal gerühmt, ein Mann der 90er-Jahre zu sein, und hat auf die großartige Wirtschaftspolitik der 90er-Jahre verwiesen. Ich selbst bin aus dem Ruhrgebiet und, glaube ich, der einzige Redner in der Debatte ohne ostdeutsche Geschichte.

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Merkt man!)

Aber ich weiß aus vielen Schilderungen, dass die 90er-Jahre im Osten des Landes wirtschaftspolitisch vielleicht gar nicht so eine glorreiche Zeit waren. Vier von fünf Menschen, die ihren Job verloren hatten – Massenarbeitslosigkeit; wir haben es gerade gehört –, fehlte eine Perspektive. Und Herr Merz spricht davon, er wolle die 90er-Jahre zurück. Was für eine Arroganz,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

vom Hügel im Sauerland auf den Osten zu blicken und über diese Aspekte kein Wort zu verlieren! Ich hoffe, Sie tun es wenigstens intern.

Meine Damen und Herren, ich war im Sommer in Bitterfeld-Wolfen. Ich habe mir gemeinsam mit anderen das ehemalige oder in Teilen ja noch bestehende Solar Valley angeschaut.

(Katrin Budde [SPD]: Traurige Geschichte!)

Man hat uns auf dem Weg dorthin erklärt: „Da hängt noch dieses Firmenschild; die Firma gibt es aber gar nicht mehr. Vielleicht kommt da wieder was hin.“ Das ging die ganze Zeit hindurch so. Wir haben mit der Taxifahrerin gesprochen und gefragt: Was hat das eigentlich mit dieser Region gemacht, erst große Hoffnungen und dann, fast von einem auf den anderen Tag, alles dahin? – Ich habe auch gehört, dass es damals schon Zweifel gab, weil einige der Jobs, die dort geschaffen worden waren, nicht besonders gut vergütet waren, dass die ganze Frage der Mitbestimmung nicht gut ausgestaltet war.

Trotzdem ist ja genau der Verlust der Solarindustrie an dieser Stelle und an vielen anderen Orten auch Teil der Biografie, auch Teil des kollektiven Bewusstseins, was Wandel eigentlich heißen kann. Als jemand aus Duisburg, der weiß, dass Strukturwandel häufig auch Verlust von Identität bedeuten kann, sage ich: Es muss unsere gemeinsame Aufgabe sein, diesen Strukturwandelregionen Zukunftsversprechen zu geben, die dann auch eingehalten werden, und damit einen Zukunftsmut zu schaffen, der eine Grundlage hat; das ist doch unsere gemeinsame Aufgabe, meine Damen und Herren!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das geht aber nicht, wenn man sich der Wirklichkeit verschließt. Wissen Sie, was der Unterschied zwischen Kai Wegner und Friedrich Merz ist? Der Unterschied ist nicht, dass Kai Wegner der kleine Bürgermeister im kleinen Berlin ist – wie Herr Merz es ja dargestellt hat – und Herr Merz hier im großen Deutschen Bundestag für die großen Themen zuständig ist. Der große Unterschied zwischen Kai Wegner und Friedrich Merz ist: Der eine regiert, und der andere träumt nur vom Regieren.

(Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)

Der eine muss mit der Wirklichkeit arbeiten, dem anderen reicht seine Ideologie.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Stefan Rouenhoff [CDU/CSU]: Sie haben ausgeträumt!)

Das ist der Unterschied zwischen Kai Wegner und Friedrich Merz. Und so klein kann Kai Wegner gar nicht sein, als dass er nicht die Größe zeigt, die Friedrich Merz in dieser Debatte eigentlich bräuchte.

Meine Damen und Herren, wir werden weder für Ostdeutschland noch für den Rest dieses Landes die Transformation unserer Industrie schaffen, ohne dass der Staat eine richtig aktive Rolle einnimmt. Das wird sonst nicht gelingen; deswegen muss uns das gelingen.

Und ich sage das auch sehr deutlich, Herr Schulze, weil Sie da vollkommen recht haben: Ich weiß aus vielen Gesprächen in den letzten Tagen und Wochen um die Unsicherheit, die das KTF-Urteil des Verfassungsgerichts ausgelöst hat.

(Sepp Müller [CDU/CSU]: Ihre katastrophale Politik! Ihre Politik ist das! – Gegenruf von der SPD: Mein Gott! Hören Sie mal auf!)

Jeder Tag Unsicherheit ist ein Tag zu viel. Deswegen muss es uns gelingen, sehr, sehr bald Klarheit zu schaffen, und zwar sowohl für den Haushalt 2024 als auch für den Klima- und Transformationsfonds auf Dauer – und aber eben auch dafür, dass dieses Land in der Lage ist, seine industrielle Basis zu erhalten. Und da hilft es nicht, dass Herr Dobrindt in der Debatte vor zwei Wochen aufgetreten ist und gesagt hat, beim Klima- und Transformationsfonds gehe es um grüne Ideologieprojekte und grüne Wunschprojekte. Herrgott noch mal! Es geht um die industrielle Basis in diesem Land. Kümmern Sie sich doch bitte auch mal darum!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Die richtet ihr ja gerade zugrunde! Heuchlerisch! – Stefan Rouenhoff [CDU/CSU]: Kümmern Sie sich darum, genau!)

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