598 oder: Ist Politik in der Lage, sich selbst zu beschneiden?

614 – 622 – 631 – 709 – 736.

Mit jeder Bundestagswahl wird der Bundestag größer. Statt der vorgesehenen 598 Abgeordneten umfasst er seit zwei Wahlperioden mehr als 700 Parlamentarier*innen. Und dass es 2021 “nur” 736 wurden und nicht, wie einzelne Prognosen zwischendurch angedeutet hatten, 850 oder 900, war dann auch eher ein glücklicher Zufall.

Diese Abweichung nach oben hat technisch ihre Quelle in unserem personalisierten Verhältniswahlrecht mit Direkt- und Listenmandaten. Erwirbt eine Fraktion mehr Direktmandate über die Erststimme als ihr nach Zweitstimmenergebnis zustehen, werden diese solange ausgeglichen, bis die Mehrheitsverhältnisse im Parlament wieder dem Wahlergebnis entsprechen.

Seit mehreren Wahlperioden gibt es eindringliche Appelle der jeweiligen Bundestagspräsident*innen, das Wahlrecht substanziell zu ändern. Und es gibt viele Vorschläge dazu, unter anderem von unserer Bundestagsfraktion. Bislang sind alle fairen Vorschläge an der Unionsfraktion und insbesondere der CSU gescheitert, die um ihre Mandate fürchtet.

Jetzt hat die Ampel einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, um dieses peinliche Versagen zu beenden. Diesen Freitag wird er in erster Lesung im Plenum beraten; noch vor der Sommerpause wollen wir den Prozess zum Abschluss bringen. Vereinfacht funktioniert der Vorschlag so, dass Direktmandate nur solange zugeteilt werden, wie sie dem Wahlergebnis entsprechen, ohne die dann feste Größe von 598 Abgeordneten zu überschreiten. Die Zuteilung der über die Wahlkreisstimme errungenen Mandate erfolgt dann nach relativem Personenstimmenergebnis, d. h. ein mit 40 Prozent gewonnenes Direktmandat zieht vor einem mit 24 Prozent. Das ist die einzige Variante, um die Sollgröße von 598 Abgeordneten wieder sicher einzuhalten und dabei das Wahlergebnis im Parlament abzubilden.

Das heißt: Alle (!) Fraktionen würden kleiner, aber alle würden im Vergleich zu heute im selben Verhältnis kleiner. Die sehr vereinzelten Wahlkreise, die keine direkt gewählten Abgeordneten mehr hätten, würden in der Regel weiterhin durch Abgeordnete vertreten, die über die Parteilisten einziehen. Nur fünf von 299 Wahlkreisen hätten mit einem solchen Wahlrecht bei der letzten Bundestagswahl keine direkte Vertretung gehabt.

Die Union ruft jetzt: “Organisierte Wahlfälschung!” Ein solches Vorgehen kenne man nur aus Schurkenstaaten.

Das ist nicht nur politisch stillos, es ist auch einfach verlogen. Mal abgesehen davon, dass ein solches Wahlrecht unter absoluter CSU-Mehrheit in Bayern 12 Jahre lang galt und auch heute direkt gewählte Abgeordnete nicht in den Bayerischen Landtag einziehen, wenn ihre Partei die 5-Prozent-Hürde nicht überschreitet, also Bayern selbst ein Schurkenstaat wäre: Es war die Unionsfraktion, deren einziger substanzieller Vorschlag in den letzten Jahren (und jetzt erneut!) ein sogenanntes Grabenwahlrecht war, das einseitig CDU und vor allem CSU mehr Mandate und allen anderen weniger beschert hätte. So hätte die Union mit einem solchen Wahlrecht bei Wahlergebnissen zwischen 32 und 40 Prozent 2009, 2013 und 2017 die absolute Mehrheit der Mandate erhalten. Wenn ich solche Vorschläge eingebracht und ansonsten durch meine Blockade immer verhindert hätte, dass sich an diesem Zustand etwas ändert, wäre ich mit Wahlfälschungs-Vorwürfen etwas vorsichtiger.

In der Bevölkerung wird dieses Versagen der jeweiligen Parlamentsmehrheiten, sich selbst zu beschneiden und die Sollgröße wieder einzuhalten, mit zunehmendem Unverständnis registriert. Es ist Thema bei all meinen Besuchergruppen und vielen Bürger*innen-Gesprächen. Ich teile dieses Unverständnis. Wir können nicht als politisch Verantwortliche von den Bürger*innen immer wieder Anstrengungen erwarten – Energiesparen, Weiterqualifizierung, Klimaschutz, und und und – und dann so wenig eigene Bereitschaft haben, unsere Privilegien (und Mandate) in Frage zu stellen.

Ich werde deshalb für eine solche Wahlrechtsreform stimmen. Es kann sein, dass ich damit selbst auch die Axt an meine Wiederwahl anlege, sollte ich bei der nächsten oder übernächsten Bundestagswahl erneut kandidieren, denn bei gleichem Wahlergebnis würden in allen Fraktionen – auch in meiner – Menschen ihr Mandat verlieren. Aber daran darf man sich meines Erachtens bei einer solchen Entscheidung nicht orientieren. Deshalb freue ich mich, dass meine Fraktion den Gesetzentwurf in der gestrigen Fraktionssitzung einstimmig beschlossen hat.

Das Wahlrecht wurde immer wieder angepasst und die Historie vergangener Änderungen ist lang. Die letzte größere Wahlreform auf Bundesebene gab es 2013. Hier wurde das Problem des negativen Stimmgewichts gelöst, welches dazu führen konnte, dass eine Partei durch mehr Stimmen weniger Abgeordneten erhielt. Die dadurch ausgeglichenen Überhangmandate führten aber auch zur deutlichen Vergrößerung des Bundestages. 2020 gab es einen Vorschlag von Grünen, FDP und Linken, die Anzahl der Bundestagsabgeordneten sichtbar zu verringern. Die Normalgröße des Bundestages sollte zwar auf 630 Plätze angehoben, aber die Anzahl der Wahlkreise auf 250 reduziert werden. Die große Koalition lehnte diesen Vorschlag ab.

Stattdessen verabschiedete die Koalition aus SPD und Union in 2020 ein kleines Reförmchen. So klein, dass sich sogar Wolfgang Schäuble als Bundestagspräsident enthalten hat. Zentraler Bestandteil ist eine Verrechnung von Überhangmandaten über Bundesländer hinweg; drei Überhangmandate einer Partei werden nicht ausgeglichen, wenn die Regelgröße überschritten wird. Dies nutzt – wenig überraschend – besonders der Union, da sie die meisten Überhangmandate erhalten hat. Die Reform war wenig erfolgreich: Der aktuelle Bundestag ist größer denn je. Und für die nächste Bundestagswahl sollen zwar die Wahlkreise auf 280 reduziert werden, aber auch das dürfte kaum ausreichen, um den Bundestag sichtlich zu begrenzen.

Wolfgang Schäuble forderte damals eine Verbesserung, die “ersichtlich keinen Aufschub” dulde. Und genau das machen wir jetzt!

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