Wortgewaltige Sprachlosigkeit: Warum die Stadtbild-Debatte so ziellos ist

Seit einigen Jahren bin ich Mitglied der Facebook-Gruppe „Damals in Duisburg… erinnere dich!“ – ich gestehe, historische Fotos meiner Heimat sind mein guilty pleasure. Dort sieht man Bilder vom Duisburg der 1970er und1980er Jahre – orangefarbene Straßenbahnen, Trubel drumherum, nette Cafés. Und darunter fast immer der Kommentar: „Damals war es ja noch schön in Duisburg. Aber heute… kannste vergessen.“ Das Grundgefühl dieser Gruppe ist die Wehmut. Früher war alles besser.
Wo damals die hübschen Cafés waren, reihen sich heute Ein-Euro-Shops aneinander. Die Leute sind irgendwie anders, das Stadtbild: hat sich verändert. Aber wer die Schimanski-Tatorte kennt, weiß: Es gab auch andere Seiten damals, in den vermeintlich goldenen Zeiten. In den Ruhrorter Hafenkneipen wurde gesoffen und geprügelt, mitunter auch zu Hause. Der Himmel war auch bei Sonnenschein grau, die Wäsche sowieso, die Altbauten rußschwarz. Das Stadtbild: ausbaufähig.
Menschen mit Migrationsgeschichte gab es damals auch schon, man nannte sie nur anders. Arbeiten durften und sollten sie, arbeitsnah wohnen auch – also nah an den Fabriken, in denen sie für das Wirtschaftswunder gebraucht wurden. Nur auffallen sollten sie nicht. Fehler, die unser Land immer wieder wiederholt.
In Bruckhausen schaute man vom Küchenfenster auf den Hochofen, Luftlinie 50 Meter, Immissionsschutz gab es noch nicht, zumindest nicht für (Gast-)Arbeiter. Nach und nach wurden im Zuge des industriellen Niedergangs aus den Arbeitervierteln Arbeitslosenviertel und gleichzeitig Zuzugshotspots. Stadtbild jetzt: sichtbare Armut, Müll, Verwahrlosung. Kinder, die im Winter im T-Shirt auf der Straße spielen. Vor einigen Jahren wurde die erste Linie Bebauung hinter dem Thyssen-Stahlwerk abgerissen. Die Ballung der Probleme, die sichtbar, hörbar, spürbar war: städtebaulich weggebaggert. Die Probleme: verlagert auf die angrenzenden Stadtteile.
Heute ist Duisburg-Marxloh – einer dieser Stadtteile – international bekannt für seine Brautmodenmeile und regelmäßig in Fernsehbeiträgen zu Sozialleistungsbetrug zu bestaunen. Und seit neustem ist Marxloh wie der gesamte Duisburger Norden: AfD-Hochburg tief im Westen. Herr Banaszak, hallo, ich schreibe einen Artikel über die AfD, wir würden gerne mal zu Ihnen kommen und verstehen, warum bei Ihnen so viele Leute Nazis wählen, hat das mit der Migration zu tun, haben Sie Zeit? Klar, gerne, sobald Ihr Kollege mit der gleichen Story fertig ist.
Warum ich so viel über Duisburg schreibe? Weil nach Friedrich Merz‘ herausgeraunter Respektlosigkeit so viele meinen, am Stadtbild meiner Heimat die Lage klären zu können. Weil der WELT-Chefredakteur Jan Philipp Burgard seine Replik auf meine Merz-Kritik mit der Aufforderung betitelt, Deutschland dürfe nicht wie Duisburg werden. Weil in den Kommentaren immer wieder auftaucht: Banaszak, du kommst doch aus Duisburg. Du weißt doch, was Merz meint.
Und hier liegt das Problem: Diese Debatte hat uns als Gesellschaft nicht klüger gemacht, nur polarisierter. Sie ist so mühselig und unergiebig, weil sich im Kern zwei Seiten empathie- und freudlos gegenüberstehen und einander auch nicht verstehen wollen. Sie ist eigentlich keine Debatte, weil sie kein Gespräch enthält, denn Gespräch heißt auch: Zuhören. In dieser “Debatte” wird eigentlich nur gesendet, und zwar volles Rohr. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist die Wahrheit.
Manche sehen vor allem die Vielfalt, andere den Verfall. Aber es gibt keinen Diskursraum, der den vermeintlichen Widerspruch bearbeitet und auflöst. Man findet auch deshalb keinen Bezug zueinander, weil der Bundeskanzler es auch bei mehrmaligem Versuch nicht schaffen will, zu sagen, was genau er meint. Weil er stattdessen ein Ressentiment dahinraunt und ein paar Tage später die rhetorischen Töchter dieses Landes auffordert, ein weiteres Ressentiment hinterherzuraunen. Und weil er erst nach einer Woche einen banalen Text seiner Mitarbeiter vorliest, der immerhin einen ersten Hinweis darauf gibt, zwischen welchen vermeintlich guten und weniger guten Migranten-Gruppen der Bundeskanzler meint, im Stadtbild unterscheiden zu können.
Nein, ich persönlich glaube nicht, dass Friedrich Merz mit seiner Aussage zum Problem im Stadtbild die migrantischen Mitglieder unserer Duisburger Ratsfraktion meint, oder seinen Parteifreund Joe Chialo, oder die Biontech-Gründer Uğur Şahin und Özlem Türeci. Aber ganz offensichtlich hat er, der Bundeskanzler, auch nach einer Woche nicht verstanden, warum sich so viele Menschen angesprochen und gemeint fühlen, und das nicht, weil sie ihn politisch motiviert missverstehen wollen. Oder er weiß es, und es ist ihm egal. Diese Haltung ist für sich genommen schon problematisch. Bei einem Bundeskanzler ist sie fatal.
Denn Teil der Realität unseres Landes ist, dass Menschen jeden einzelnen Tag Rassismus erfahren. Ganz egal, wie viele Jobs oder Universitätsabschlüsse sie haben. Wieviel sie zum Bruttoinlandsprodukt beitragen. Ob sie ihre Kinder in die Koran-Schule oder ins Philosophie-Studium schicken. Friedrich Merz ist wohl egal, dass es strukturellen Rassismus gibt, der bedeutet, dass Menschen schlechtere Chancen haben, zu einem Bewerbungsgespräch für eine Wohnung oder einen Job eingeladen zu werden. Und deutlich höhere Chancen, von Polizeibeamten anlasslos kontrolliert oder im schlimmsten Fall von Rechtsextremen im eigenen Geschäft erschossen zu werden.
Ihm ist wohl auch egal, was es für Menschen in diesem Land bedeutet, wenn er gemeinsame Sache mit einer rechtsextremen Fraktion macht, von denen sich Abgeordnete als “das freundliche Gesicht des Nationalsozialismus” bezeichnen oder in Potsdam Deportationspläne für Millionen Menschen schmieden. Warum fällt es vielen konservativen Politikern so schwer, diesen Teil der Realität anzuerkennen? Warum wird er so oft von jenen geleugnet, die Friedrich Merz jetzt beispringen und in den Protesten gegen ihn nur wokes Gutmenschentum erkennen?
Der süffisante Ton in seiner ersten Reaktion verrät: Friedrich Merz weiß, was er angerichtet hat. Und er hat nachgelegt.
Seine Worte haben Menschen tief verletzt und verunsichert – und gegen ihn mobilisiert. Verständlich. Dass sich die Zivilgesellschaft in einem solchen Moment versammelt, um ihre Solidarität mit denen zu zeigen, die angesprochen sind oder sich angesprochen fühlen (müssen): Es ist keine falsche Empörungskultur, es ist ein gutes Zeichen.
Nur: Damit ist es nicht getan.
Zurück zu Duisburg und dem ominösen Stadtbild. Nein, hier ist wirklich nicht alles in Ordnung. Ich liebe meine Stadt, aber die Probleme, die viele Menschen im Duisburger Alltag erleben, ob am Hauptbahnhof oder in den Straßen von Marxloh, sind gewaltig. Busse und Bahnen fahren hier oft nach Lust und Laune, nicht nach Fahrplan. Stadtteilbüchereien schließen, Kitas sind überfüllt, Schule findet nicht selten im Container statt. Auf den Straßen herrscht reges Treiben, aber auch offene Kriminalität und Gewalt. Polizei und Ordnungsamt geraten an ihre Grenzen, Menschen trauen sich in der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße. Es sind bittere Schicksale, die Menschen erleiden, auch Menschen mit Migrationsgeschichte. Fast jede Stadt hat mit diesen Herausforderungen zu kämpfen, Duisburg ist nur ein Ort von vielen, und es macht etwas mit einer Stadtgesellschaft. Es sind Zustände, die ich nicht akzeptieren will und eine demokratische Gesellschaft auch nicht akzeptieren kann. Es sind Zustände, an die Menschen denken, wenn Friedrich Merz vom Stadtbild spricht. Man muss das ernst nehmen, kann es nicht mit Statistiken und Trotz beiseite wischen. Manches davon hat mit Migration zu tun, vieles gar nicht: Deindustrialisierung, kommunale Finanznot, marode Infrastruktur, verfestigte Arbeitslosigkeit, vererbte Armut, gesellschaftliche Ausgrenzung.
So sehr die Aussagen des Bundeskanzlers in ihrer ressentimentgeladenen Pauschalität zurückgewiesen werden müssen: Zur Realität dieses Landes gehört auch, dass der Bundeskanzler eine breit getragene Wahrnehmung anspricht, mit der sich progressive Kräfte beschäftigen müssen.
Es gibt sie, die Angsträume in unserem Land. Es gibt die an Kleinstadtbahnhöfen herumlungernden Faschos und sturzbesoffen grölende Fußballfans in Zügen. Und es gibt kriminelle Gruppen auch aus migrantischen Familien, die am Freitagabend Leute abziehen oder Frauen belästigen.
Es gibt Femizide, die von weißen Tätern an ihren Ehefrauen und Ex-Freundinnen begangen werden, und es gibt Frauenmorde muslimischer Männer an ihren Frauen, Schwestern und Töchtern im Namen der „Ehre“.
Es gibt Jugendzentren in der sächsischen Schweiz, in denen man als trans* Mann von anderen Jugendlichen ausgegrenzt wird. Und es gibt Schulen in Berlin-Moabit, in denen ein schwuler Lehrer von Kindern in die Psychotherapie gemobbt wird, die ihr Verhalten damit begründen, der Islam sei hier Chef.
Es gibt die Frauen, die sich nicht zu nah an das U-Bahn-Gleis stellen, weil ihnen das Video des Mannes, der eine Frau die Treppe runterstößt, nicht aus dem Kopf geht. Und es gibt die jungen migrantischen Männer, die täglich argwöhnische Blicke aushalten müssen und sich fragen, ob sie in ihrer Heimat Deutschland überhaupt dazugehören.
Es gibt all das und es gibt die damit verbundenen Ängste. Warum fällt es uns als Gesellschaft so schwer, das gesamte Bild zu sehen? Warum fällt es uns schwer, diese Wahrnehmungen als tiefes Gefühl von Verunsicherung, als Vertrauens- und Kontrollverlust zu verstehen, der schon längst in unseren Alltag eingegriffen hat?
Progressive Kräfte, die notwendige und berechtigte Kritik an rassistischen Aussagen und Strukturen formulieren, dürfen nicht den Eindruck erwecken, diesen Teil des Lebens auszublenden, denn es gibt ihn. In der Sache kämen wir weiter, wenn wir uns nicht entscheiden müssten, ob wir über Frauenhausplätze oder ein besseres Integrationsangebot für Geflüchtete sprechen.
Wir haben als Gesellschaft verlernt, mit offenem Herzen und kühlem Kopf daran zu arbeiten, dass es besser wird: Bildungserfolg für Jenny und für Yasemin, für Kemal und für Konrad. Selbstbestimmung über ihr Leben, Sicherheit vor Gewalt, ob zu Hause, in der Unterführung oder in der Hanauer Shishabar. Wir müssen über diese Themen sprechen – ehrlich und unmissverständlich. Merz allerdings hat nichts von beidem getan. Denn es ist unehrlich, die Zustände zu beklagen, die seine Partei mitzuverantworten hat. Wer Integrationsarbeit an Ehrenamtliche auslagert, Frauenhäuser chronisch unterfinanziert und die öffentliche Infrastruktur vernachlässigt, der darf sich nicht durch Stammtisch-Gerede aus der Verantwortung stehlen.
In Duisburg gibt es übrigens nicht nur Probleme. Es gibt auch Leute, die sie lösen wollen. Nicht mit Abschottungsrhetorik, nicht mit Ausgrenzung, sondern mit Pragmatismus und Offenheit. Über 14 Jahre haben bei den “HeRoes” junge Männer mit Migrationshintergrund Community-orientierte Arbeit gegen Gewalt im Namen der Ehre und Gedenkfahrten nach Auschwitz-Birkenau organisiert. Ich fand es beeindruckend, diese jungen Männer ihre Prägung reflektieren zu hören – und ihre Auseinandersetzung damit, dass es auch Männlichkeitsbilder gibt, die auf Gleichberechtigung und echtem Respekt beruhen.
Vielfalt und Migration sind eine Chance und Diversität ist unsere Stärke. Aber, das gehört zur Ehrlichkeit dazu, Vielfalt kann auch verdammt anstrengend sein. Integration ist kein Schlagwort, sondern Arbeit – Arbeit, die sich lohnt. Vielfalt fordert uns heraus, Werte und Regeln immer wieder miteinander auszuhandeln. Dabei stoßen wir nicht selten auf Ansichten, die wir als Zumutung empfinden. Und manche bestehende Regel muss auch einfach durchgesetzt werden. Wenn wir all dies als Chance nutzen wollen, wenn wir Probleme nicht nur betrauern, sondern lösen wollen, brauchen wir einen klaren Kompass, Ehrlichkeit und Empathie.
Was wir nicht brauchen, ist ein Bundeskanzler, dem all diese Eigenschaften fehlen.